Ich bin Deutsch! – Mirja

Das Gespräch mit Mirja habe ich bei ihr Zuhause geführt.
Mirja hat polnische, deutsche und britische Wurzeln. Ihre Großeltern väterlicherseits stammen aus Polen, mütterlicherseits stammt die Familie aus Thüringen.


Da die Familiengeschichte von Mirja Kon-Thederan eine sehr faszinierende ist, möchte ich ihr am Ende des Interviews gerne mehr Platz lassen.

Bild: Ich bin Deutsch! - Mirja

Martin: Mirja, Ihr Name ist ja sehr ungewöhnlich und kann finnischer oder auch hebräischer Herkunft sein. Was bedeutet ‚Mirja‘ und was hat Ihre Eltern zu dieser Namenswahl bewogen?

Mirja: Meine Eltern wollten einen seltenen, besonderen, für sie wohlklingenden Namen im besten Sinne für mich haben. Meine Eltern haben sich bei der Namenswahl auf die finnische Herkunft mit der Bedeutung „Stern“ bezogen. Der Name bedeutet auch, wie der Pfarrer bei meiner Konfirmation sagte, „die Widerspenstige, die Unbezähmbare“. Diese Wahl fand ich in meiner Kindheit und frühen Jugend nicht ganz so toll. Auch wusste ich nicht so recht, ob die Bedeutung nun gut oder schlecht für mich ist (*lacht). Ich glaube, ich kann beidem etwas abgewinnen. Für mich ist Mirja inzwischen ein schöner Name, abgeleitet vom hebräischen Namen Miriam, was ja wiederum eine Form des Namens Maria ist und damit für alle abrahamitischen Religionen eine besondere Bedeutung hat.

Martin: Haben Sie denn in Bezug auf Ihren Namen schon negative Erfahrungen machen müssen, zum Beispiel wegen des jüdischen Anklangs?

Mirja: In der Schule bin ich mit meinen Vornamen und meinem Nachnamen schon aufgefallen. Heutzutage sind ungewöhnliche Namen wohl gängiger als früher. Vor allem in Verbindung mit meinem gälischen Zweit- und ungewöhnlichen Nachnamen, der dazuhin auch noch ein Doppelname ist. Das war einfach nicht üblich. Nicht wegen „jüdisch“, sondern wegen „auffällig“ und entsprechenden schlechten Erfahrungen war ich unzufrieden: „Wie schreibt man das?“, „Wie spricht man das aus?“ Und wirklich andauernd wurde automatisch ein zusätzliches „m“ als letzter Buchstabe an meinem Namen angefügt usw. Das war schon unangenehm und ich fühlte mich verunsichert und ausgegrenzt. Ich hätte lieber „Jenny“ oder „Jennifer“ oder was weiß ich wie geheißen. Ausgrenzung aus antisemitischen Motiven, das ist mir als Kind nicht passiert, später aber hin und wieder. Dies dann aber im Zusammenhang mit meinem Nachnamen-Bestandteil „Kon“, was eine andere Schreibweise des klar jüdischen Namens Cohen ist. Antisemitisch „tickende“ Menschen wissen sehr wohl um dessen Bedeutung.

Bild: Ich bin Deutsch! - Mirja

Martin: Was bedeutet denn „Kon“ oder „Cohen“?
Mirja: „Kon“ oder „Cohen“ ist ein sehr weit verbreiteter Name. Er benennt, kurz erklärt, die „Kohanim“. Diese sind eine besondere Gruppe (ca. 10 Prozent) innerhalb des Judentums, welches historisch und potentiell zukünftig eine wichtige tempeldienstliche Funktion innehält und deshalb besonders zu ritueller Reinheit verpflichtet ist. Mein Vater heißt Kon und ist, wie schon gesagt, gemäß jüdischer Überlieferung ein säkularer Jude – auch wenn er baptistischer Theologe ist und eine christliche Frau (und dazu eine Deutsche!) geheiratet hat.

Martin: In welchem Glauben sind Sie denn als Kind eines säkular-jüdischen Umfeldes in England erzogen worden, wenn Sie heute Buddhistin sind?
Mirja: Ich bin im christlichen Glauben erzogen worden. Meine Eltern waren bzw. sind beide christliche Theologen. Meine Mutter gehört zur evangelischen Amtskirche, mein Vater ist wie gesagt Baptist. Auch wenn beide ihren Glauben wirklich leben, wurde ich nicht so gläubig erzogen, wie man sich das vielleicht vorstellen würde. Ich kannte viele Pfarrer und andere Theologen. Viele Freunde meiner Eltern waren Theologen, auch meine Pateneltern. In diesem „Dunstkreis“ bin ich aufgewachsen, mal mehr und mal weniger gläubig. Ich fand den Glauben meiner Eltern toll. Ich fand toll, dass sie beten konnten. Das wollte ich auch können: so mit Gott reden. Das hat aber nie richtig geklappt. Das war eher so ein Auf und Ab mit dem Glauben, den ich immer mal – auch philosophisch – gesucht und auch mal wieder nicht gesucht habe. Trotzdem habe ich mich dann später, kurz vor der Konfirmation, doch taufen lassen. Für meinen Vater als Baptist kam nur eine selbst gewählte Erwachsenentaufe in Frage, obwohl ich eine Kindstaufe eigentlich besser gefunden hätte. Für mich bedeutet Taufe Segnung und die Gewissheit, dass man wie der biblische „verlorene Sohn“ eine Zuflucht hat, zu der man absolut immer zurückkehren kann. Ich bin früh, mit Siebzehn, ausgezogen und bin dann irgendwann einer Buddhistin begegnet. Dann ging das eigentlich ganz schnell: sie konnte mir beibringen zu beten, obwohl ich zunächst „nur“ Entspannungsmeditation lernen wollte. So bin ich Buddhistin geworden und geblieben – und zwar eine sehr engagierte und theologisch „tiefe“ Buddhistin!

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Martin: Durch Ihren buddhistischen Glauben sind Sie zu der ‚Arbeitsgemeinschaft Garten der Religionen für Karlsruhe e.V.‘ gekommen?
Mirja: Ja. Ich war nicht ganz von Anfang an dabei, aber schon sehr früh. Ich wurde von meiner buddhistischen Glaubensgemeinschaft, dem Menlha-Zentrum für Buddhismus (ich werde sie nachfolgend Zentrum nennen), quasi entsandt, als uns die Anfrage der damals eher lockeren Gruppe erreichte, die die Idee des ‚Gartens der Religionen‘ verfolgte, ob wir dabei nicht als eine Vertreterin des Buddhismus mitwirken möchten. Schon damals war mir interreligiöse Kompetenz sehr ans Herz gewachsen, denn viele der Besucher eines buddhistischen Zentrums im Westen sind keine Buddhisten. Daher stellte sich für mich früh die Frage, wie ich mit interessierten Menschen ins Gespräch komme, um ihnen meinen Glauben zu erklären – und zwar so, dass es die Dialogpartner auch erreicht und ihnen auch etwas bringt. Denn: Wie erkläre ich anderen Menschen, die nicht konvertieren wollen und die ich auch gar nicht missionieren möchte, meinen Glauben, ohne dass ich diesen verforme oder ihm die Tiefe nehme? Wie vermittle ich diesen Menschen, wie sie – als einen Vorschlag (!) aus buddhistischer Sicht – ihren Teil zum Frieden in ihrem Alltag, ihrem Kontext und gesellschaftspolitisch beitragen können? Das hat mich schon innerhalb meines Zentrums immer umgetrieben. Und so war klar, dass ich diejenige sein würde, die von uns zur ‚Arbeitsgemeinschaft Garten der Religionen‘ dazu stoßen sollte.

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Martin: Der ‚Garten der Religionen‘ beinhaltet ja nun ein breites Spektrum an Religionen. Kommt es mit Besuchern zu interreligiösen oder rassistischen Konflikten? Gab es Schmierereien oder Vandalismus in dieser öffentlichen und frei zugänglichen Gartenanlage?
Mirja: Naja, auf Podiumsdiskussionen gibt es schon ab und zu Stimmen, die sagen: „Ihr da oben mit euren ganzen Religionen, ihr sitzt da oben so harmonisch. Das kann so nicht sein. Ihr wollt uns irgendetwas Verdächtiges, Religiöses verkaufen. Oder missioniert ihr nicht doch?“ Damit wird uns suggeriert, dass da „irgendetwas nicht stimmen kann“.
Unsere Antwort lautet dann immer: „Das, was ihr hier jetzt seht, ist echt – aber es ist auch das Ergebnis von langen und intensiven Begegnungen, Gesprächen und des Kennenlernens.“
Denn nicht die Religionen selbst führen einen Dialog und agieren gut oder schlecht miteinander, sondern die Menschen, die diese Religionen leben oder eben auch nicht leben.
Was das breite Spektrum betrifft, gibt es auch familiäre „Verquickungen“ wie zum Beispiel mich und meinen Mann. Ich bin Buddhistin, er nicht. Er ist religionslos. Dennoch engagiert auch er sich im und für den ‚Garten der Religionen‘ und anderen interreligiösen Kontexten. Sogar schon länger als ich, da er davon überzeugt ist, dass der Dialog zwischen den Religionen und über religiöse Diversität enorm wichtig ist und wirkungsvoll zum gesellschaftlichen Frieden beiträgt. Mit dieser „Mischehe“ habe ich mich übrigens selbst etwas überrascht.
Oder: Wir haben eine gute Freundin, Hafza. Sie ist Muslima und passt öfter auf unsere Kinder auf. Dasselbe gilt für Freunde, die als Muslime einer der Karlsruher Moschee-Gemeinden angehören. Da gibt es schon immer mal wieder Stimmen aus meinem Umfeld, die mich besorgt fragen, ob ich denn keine Angst hätte, dass „diese Menschen“ unsere Kinder missionieren würden. Für mich und meinen Mann stellen sich solche Fragen aber gar nicht erst, denn wir wissen unsere Kinder dort in besten Händen. Vor was soll ich da Angst haben? Ich kenne die Menschen dort. Im Zweifel spreche ich mit meinen Kindern und mit ihnen. Ich finde es gut, dass meine Kinder gläubigen Menschen aus verschiedenen Religionen begegnen, denen ich ihren Glauben „abnehme“ und die gewisse Werte verkörpern und nach meiner Wahrnehmung auch leben.
All dies sind „gewachsene Früchte“ aus der Arbeit im und um den ‚Garten der Religionen‘. Die ihn tragende AG befasst sich über das inzwischen ebenfalls gewachsene Jahresprogramm mit allerlei Begegnungs- und Informationsveranstaltungen, Führungen usw. hinaus zunehmend damit, die Interessen und Anliegen religiöser Menschen in aktuelle religions- und integrationspolitische Debatten in Karlsruhe einzubringen. Denn man merkt dabei doch, dass die Frage von `überzeugt religiös‘ und ‚leidenschaftlich nicht-religiös‘ durchaus keine Frage wie viele andere ist, sondern tief mit der Identität und dem Selbstverständnis des jeweiligen Akteurs zu tun hat und dementsprechend aufgeladen sein kann.

Gerade deshalb versuchen wir uns darin zu üben und dies auch anderen weiterzugeben, wie –  in der Praxis – ein nicht zu weit, aber auch nicht zu eng gesteckter Toleranzbegriff innerhalb unserer demokratischen Grundordnung funktionieren kann.
Aber ich schweife von der Frage ab (*lacht).
Nein, erstaunlicherweise gab es bisher keine bleibenden Verunstaltungen oder Vandalismus im ‚Garten der Religionen‘. Zwar gab es schon ein paar kleinere Schmierereien auf dem ein oder anderen baulichen Teil, aber nichts, was ich nicht mit „Hausfrauenmitteln“ hätte wieder entfernen können – und auch nichts, was ganz augenscheinlich auf eine besondere und gezielte Aktion gegen die Anlage oder die dahinterstehende Idee schließen ließ. Nur einmal hatte man Teile des ‚Gartens der Religionen‘, wahrscheinlich mit Hilfe von Briketts, schwarz angemalt und die Stadt musste das säubern.

Meine Erklärung für dieses doch positive Fazit ist, dass „man“ dem ‚Garten der Religionen` anzumerken und abzuspüren scheint, dass da wirklich Menschen am Werk waren und sind, die vielleicht anders sind als man selbst, die sich aber sehr lange und viele Gedanken gemacht haben und viel Herzblut in diesen Ort gesteckt haben. Das strahlt der Ort meiner Meinung nach aus – und ein gewisser Respekt, eine gewisse Wertschätzung vor oder gegenüber diesem Bauwerk scheint deshalb irgendwie zu funktionieren. Und durch die wunderbare Einbettung in den Citypark und den neuen Stadtteil Südstadt-Ost gibt es natürlich auch ein gewisses Maß an „sozialer Kontrolle“ und ein Engagement von Menschen aus der unmittelbaren Nachbarschaft bis hin dazu, dass augenscheinlich einige Anwohner immer wieder Müll aufsammeln. Mein Wunsch ist, dass dieser Ort die Grundüberzeugung seiner Macherinnen und Macher so stark ausstrahlt – nämlich, dass trotz aller Widrigkeiten und Grenzen alle Menschen so viel mehr eint als trennt – , dass ihn dies dauerhaft beschützt und zu einem für viele Menschen besonderen Ort macht. Und unsere vielen Begegnungen und Gespräche in dieser Anlage und das große Interesse an ihm lässt mich hoffen, dass dies auch tatsächlich so ist und auch so bleiben wird.

Sehr wohl gibt es die Vorwürfe der Scheinheiligkeit oder der Lippenbekenntnisse gegenüber uns und den einzelnen Religionen, wie ich es beim Beispiel mit den Podiumsdiskussionen erwähnt habe. Darüber kann man oftmals sinnvoll diskutieren, aber wenn jemand statt an einem Dialog lediglich an seinem eigenen festgefahrenen Standpunkt interessiert ist, dann bringen Diskussionen nichts. Es ist schwer auszuhalten, wenn dieser Standpunkt Verletzendes bis hin zu Menschenverachtendem beinhaltet.
Manchmal ist es aber doch sinnvoll, darüber zu sprechen, was es mit einem macht, wenn man solchen Vorwürfen ausgesetzt wird. Denn es ist schon heftig, wenn man sich in Bezug auf seinen Glauben auf angebliche Lippenbekenntnisse oder gar eine verborgene feindliche Agenda reduzieren lassen muss. Das ist eine wirklich verletzende Handlung –  unter Umständen sehr diskriminierend, feindlich oder auch rassistisch im Sinne von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.

Von einem wirklich islamfeindlichen Pärchen, das immer wieder im ‚Garten der Religionen‘ auftaucht und andere Besucher in Diskussionen verstrickt, wurden wir zum Beispiel schon ernsthaft aber verbal agressiv gefragt, warum denn im den Islam repräsentierenden Teil der Anlage nicht eine  „abgehackte Hand“ als Symbol für den Islam abgebildet sei. (Anmerkung: das Abhacken der Hand ist in der Scharia als Strafe für das Delikt des Straßenraubes vorgesehen). Und wir im ‚Garten der Religionen` engagierten Menschen aller Religionen seien doch alles nur Islamisten oder aber Handlanger von Islamisten. Und ein (nach eigener Aussage als Religionslehrer unterrichtender!) Mann schlug uns am Rande eines Workshops zur Fortschreibung des Karlsruher Integrationsplans allen Ernstes vor, beim ‚Garten der Religonen‘ noch einen Platz für die Witwenverbrennungen der Hindus und ein Steinigungsfeld für die Muslime einzurichten…

So etwas tut weh – und so etwas tut uns unrecht. Denn die einzelnen „Religionskreise“ des  ‚Gartens der Religionen‘ werden ganz bewusst „umarmt“ von einem alle Menschen verbindenden Außenkreis, in dem auch drei Stelen stehen, welche Auszüge aus den Grund- und Menschenrechten abbilden. Dies soll für uns symbolisch den Konsenz aller Akteure in der ‚AG Garten der Religionen für Karlsruhe e.V.‘ ausdrücken, nämlich dass diese Grund- und Menschenrechte selbstverständlich die Grenzen der (positiven wie negativen) Religionsfreiheit bilden.

Aber wir wollen ehrlich sein: Dieses Primat der Menschenrechte vor den Gesetzen und Traditionen der Religionen und Kulturen können wir nur für uns selbst garantieren – aber dies gilt ja auch für jede andere tatsächliche oder zugeschriebene „Gruppe“.

Da wir nicht die ganze „Weltgemeinschaft“ der Christen, Muslime, Buddhisten usw. oder auch nur deren überregionale Organisationen insgesamt vertreten und diese auch nicht  beeinflussen können, können wir natürlich diese Maßstäbe nur im Bezug auf unsere direkten Mitglieder und Mitakteure wirklich „überwachen“ und im direkten Umgang miteinander und gegenüber der „Außenwelt“ als Ausschlußkriterien anlegen. Darauf weisen wir in unserer Arbeit regelmäßig hin – und wir beteiligen uns an der Benennung von Missständen im Umgang innerhalb der Religionen und zwischen den Religionen und bei der Benennung von Verbrechen von tatsächlich oder vermeintlich religiös legitimierten Gewalttaten wie Attentaten oder der Vertreibung der Rohingyas. Für unser lokales Miteinander wäre es kontraproduktiv, wenn wir im Umgang miteinander oder im Dialog mit der Gesellschaft vor allem daran gemessen werden, was außerhalb unserer persönlichen Möglichkeiten des Wirkens liegt – so wie derartige „Kollektivhaftung“ auch in anderen Kontexten den Dialog und das Miteinander erschwert. Das entbindet uns aber nicht von unserer Verpflichtung (und auch unserer – auch religiös motivierten – Überzeugung), dass wir mit aller Kraft für dieses Primat der Grund- und Menschenrechte wirken.

Bild: Ich bin Deutsch! - Mirja

Martin: Hat der Einzug der AfD in den Bundestag solche Diskurse verschärft?
Mirja: Das würde ich so weder bejahen noch verneinen können. Aber was mir auffällt ist, dass die unterschwellige Angst der Menschen allgemein – aber auch der Menschen, die offen sind für Toleranz, Integration oder Menschlichkeit im weitesten Sinne – größer geworden ist. Die unterschwellige Angst, die manchmal auch explizite Frage „wie können wir denn unterscheiden, wer die bösen und gefährlichen religiösen Gruppen sind und wer nicht?“, scheint mir zugenommen zu haben. Insofern gibt es schon vermehrt Anfragen an uns. Auch erreichen uns Anfragen, ob wir keinen Vortrag über „gute und böse religiöse Gruppen“ halten können. Das sehe ich sehr ambivalent: Auf der einen Seite ist es ein Vertrauensbeweis gegenüber der ‚AG Garten der Religionen‘ und auch gegenüber mir und meiner Funktion als Vorsitzenden. Das ist das erfreuliche daran, dass die Leute fragen. Das Traurige dabei ist diese Ängstlichkeit. Meine Antwort darauf lautet dabei immer „Nein“. Denn wir sind keine Art ‚Verfassungsschutz‘ und auch keine Art ‚Weltanschauungsbeauftragte‘ – und können das auch nicht sein!
Was ich dann aber immer anbiete: Ich kann erläutern, wie ich persönlich oder wie die ‚AG Garten der Religionen‘ versucht, immer wieder auf fremde Menschen oder befremdliches Verhalten – sei es religiös oder nicht – zuzugehen und zu lernen. Also eine Art „menschliche Kompetenz“ zu entwickeln und zu erkennen, wie eng oder weit die Toleranz gegenüber anderen Menschen oder auch anderen, fremden Gebräuchen, Ritualen oder Religionen gesteckt sein muss, um als Menschen miteinander oder auch gesellschaftlich zu funktionieren. Es gibt sogar eine wissenschaftliche Theorie dazu: die Ambiguitätstoleranz.
Dann kann man darüber gerne einen Vortrag gestalten, um genau das zu erklären. Dieses Bedürfnis ist deutlich gestiegen. Vermutlich nicht bei denen, die die AfD wählen, die kommen wohl eher nicht. Aber wenn doch … und dazu dialogbereit, dann wunderbar. In dem Kontext rede ich dann auch gerne mit diesen Menschen über ihre Befürchtungen, die auf jeden Fall ernst genommen werden sollten. Denn mit den Menschen, die kommen,  fragen und diskutieren, müssen und wollen wir uns einfach zusammen weiterentwickeln.

In diesem Rahmen entspinnen sich dann auch oft Gespräche über Integration in praktischer Hinsicht. Man sitzt dabei – so glaube ich – oft dem Irrtum auf, Integration würde bedeuten, dass diejenigen, die integriert werden wollen, müssen oder sollen, dass diese Menschen „irgendwie“ „irgendwas“ werden müssen. Ich frage mich dann immer „irgendwie was?“ Wie irgendein Prototyp eines „Bio-Deutschen“? Nach meiner Wahrnehmung spricht man in Deutschland oft von „Integration“, obwohl man „Assimilation“ meint. Und das wissen und spüren auch diejenigen, von denen das gefordert wird. Und: Integration soll, ja muss, ein gemeinsamer Prozess unserer neuen Gesellschaft sein, um gelingen zu können.

Da fällt mir jetzt gerade während unseres Gespräches auf: Ich bin ja perfekt „integriert“, in erster Linie Deutsche und eigentlich nichts anderes. Trotzdem habe ich per Definition einen Migrationshintergrund, der aber dem „allgemeinen Bild eines Migrationshintergrundes“ gar nicht entspricht. Und selbst meine Kinder mit einem Mann ganz ohne Migrationshintergrund  haben dieses ja in unserem Fall rein statistische „Label“. Verstehen Sie mich dabei nicht falsch – ich finde es grundsätzlich gut, dass es statistische Daten gibt, die unsere veränderte Gesellschaft auch abbilden und damit auch Instrumente für Gesellschaft und Politik sein können. Gerade im Vorfeld der Karlsruher Wochen gegen Rassismus muss aber auch gesagt werden: Eigentlich haben wir als Gesellschaft kein Problem mit Migrationshintergründen – sondern mit Migrationsvordergründen, sprich mit rassistischen Schubladen und Denkstrukturen, die Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in die Kategorien „wir“ und „ihr“ einteilt und dabei nicht auf „einheimisch“ oder „nicht-einheimisch“ schaut, sondern diese in „weiß“ (= zu „uns“ passend) und „schwarz“ (= fremd und poteniell nie ganz dazugehörig) kategorisiert.

Martin: An dieser Stelle möchte ich, wie immer in meinen Interviews, die Frage stellen, was denn für Sie typisch Deutsch ist.
Mirja: Ohje (*lacht). Das fragen Sie mich? Keine Ahnung. Ok, ich versuche es mal. Ich fühle mich in Großbritannien sehr wohl, vielleicht wirklich durch die Geburt. Was dort bei mir als „typisch Deutsch“ wahrgenommen wurde ist folgendes: Ich sollte einmal in einem britischen buddhistischen Zentrum die dortige Gemeinschaftsküche sauber machen. Danach wurde dann ganz schnell gesagt: „Mein Gott ist das gut geputzt, typisch deutsch. Das ist Wahnsinn, so akkurat und ordentlich und so geplant.“. Sicherlich ist nicht jeder Deutsche so, aber im Allgemeinen legt man in Deutschland schon großen Wert auf Akkuratesse und Ordentlichkeit. Das wurde anderswo immer mit viel Humor und Wertschätzung sehr positiv wahrgenommen, da das eine gewisse Ruhe und Strukturiertheit in den Alltag bringt, die gut tut. All diese Dinge schätze ich sehr. Insofern ist das wirklich meine deutsche Seite.
Vielleicht ist es auch typisch Deutsch, in einem Verein zu sein, am Vereinsleben, am Gemeinwohl und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Vielleicht ist die Wichtigkeit von Papieren für seine Qualifikationen auch typisch Deutsch. In anderen Ländern kommt es darauf an, was man kann – hier leider viel zu oft, was man formal nachweisen kann (im Übrigen auch ein absolutes Integrationshindernis für jeden Zuwanderer…).
Typisch Deutsch, typisch Britisch, typisch irgendwas… kann doch immer seine Sonnen- oder Schattenseiten zeigen, und liegt maßgeblich im Auge des Betrachters, nicht wahr?

Martin: Wollen Sie jetzt zum Ende des Interviews noch etwas anderes ansprechen?
Mirja: Eine Erfahrung in Bezug auf meine Großmutter möchte ich noch loswerden. Ich bin natürlich sehr für gelungene Integration, für ein gelingendes Miteinander. Meine Großmutter musste sich ja in England – nach all den schrecklichen Jahren des Krieges, der Lager und der Flucht! – noch einmal ein ganz anderes neues Leben aufbauen. Dieses neue Leben hat sich grundsätzlich von dem unterschieden, das sie vor dem Krieg hatte: Eine Kindheit auf einem ziemlich großen Gutshof, auch nach der Heirat relativ wohlhabende Bedingungen mit zum Beispiel Köchin. Auf der Flucht und dann auch in England musste sie die Ärmel selbst hochkrempeln und ihre Sitution teilweise ganz alleine meistern. Das hat sie auch getan und bewunderswert gut geschafft. Meine Großmutter ist, trotz all der Dinge, die sie erleben musste und die sie hätten umbringen können, über einhundert Jahre alt geworden. Aber sie hat in all der Zeit nie richtig Englisch gelernt und hat in London zusammen mit vielen anderen Polen „in ihrer Blase gelebt“. Nach dem hier herrschenden Verständnis von „Integration“ hat sie sich also „nie richtig integriert“ und lebte in ihrer „Parallelgesellschaft“. Das ist etwas, das ich nicht befürworte, aber es ist ein lebensnahes Beispiel, dass  es so etwas gibt – und vielleicht auch, warum es so etwas gibt. Das hat ihr nicht geschadet und auch keinem sonst. Nur soviel zu den „bösen und gefährlichen Parallelwelten“, von denen immer erzählt wird. Klar geht das besser, aber es muss auch nicht gegen die Demokratie oder die Grund- und Menschenrechte sein.

Und ganz zuletzt: Trotz aller Gräuel „bezaubern“ mich die unzähligen kleinen und großen Momente der Menschlichkeit, die es in der Fluchtgeschichte meiner Großeltern und meines Vaters gab und die ihnen das Überleben überhaupt erst ermöglichten, wo so viele das nicht überlebten. Diese Momente der Menschlichkeit in finstersten Zeiten, die ich spüre und auch entdecke, wenn mein Vater mir diese Dinge bis heute nach und nach erzählt. Ohne diese Menschlichkeit gäbe es mich nicht. Das prägt.

Martin: Vielen Dank für das sehr interessante Gespräch und für Ihre Teilnahme an meinem Projekt.

Die Familiengeschichte von Mirja

Mirjas polnischer Großvater war studierter Textilingenieur und Inhaber einer Jutefabrik in Tschenstochau. Ihre polnische Großmutter war auf einem Gutshof aufgewachsen und hatte eine Handelsschule besucht. Sie war eine kluge und sehr lebenspraktische Frau. Das Gespür, dass es Krieg geben würde und man aus dem nahe bei Krakau liegenden Tschenstochau – dem damaligen Wohnort und Geburtsort von beiden – weg musste, hatte sie daher schon früh. Deshalb floh sie mit ihrem kleinen Baby, Mirjas Vater, der im Juli 1939 in Krakau geboren worden war, schon vor dem Kriegsausbruch am 1. September 1939 Richtung Osten – trotz des schrecklichen Polenhasses von Stalin – und nicht in den Westen in Richtung von Hitler und den Deutschen. Dies schien insbesondere deshalb die bessere Wahl, da die Familie zwar nicht den jüdischen Glauben praktizierte, aber gemäß dem jüdischen Religionsgesetz Halacha, das regelt, dass sich das Jüdischsein nach der Mutter richtet, und auch nach Hitlers rassistischer Ideologie als jüdisch galt. Damit war sie den Nazis als jüdisch bzw. nicht-arisch identifizierbar und potentiell der Vernichtung geweiht. Mirjas Großvater hatte da noch nicht fliehen wollen, da er nicht glaubte, dass ein Krieg bevorstand – oder weil er dies als Reservist der polnischen Armee nicht konnte. Erst später fand sich die Familie im russisch besetzten ostpolnischen Lemberg wieder. Von dort wurden sie dann im Juni 1940 per Zug in ein Zwangsarbeitslager beim westrussischen Joschkar-Ola (ca. 750 km östlich von Moskau) deportiert, wo Mirjas Großvater Bäume für Stalin fällen musste.
Als Stalin nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 aus polnischen Gefangenen der GULAGs die sogenannte „Anders-Armee“ aufstellte, wurde Mirjas Großvater mit seiner Familie freigelassen und in diese Armee eingezogen und musste deswegen in einer mühsamen Tour nach Süden ziehen. Auf diesem Treck erkrankte Mirjas Vater an einer schweren Diphterie, durch die er erblindete und fast ertaubte. Über eine Zwischenstation in Taschkent kam die Familie dann ans Kaspische Meer, wo Mirjas Großvater endlich zur Armee stieß. Diese war von Stalin zwischenzeitlich an die Engländer abgetreten worden und wurde deshalb über das Kaspische Meer und den Iran in den Nahen Osten gebracht und dort sowie später in Italien militärisch eingesetzt. Mirjas Großmutter blieb mit ihrem Sohn im Iran und dann in einem Flüchtlingslager in Karatschi im damaligen englischen Indien. Von dort wurden sie mit einem Teil der anderen jüdischen Flüchtlinge nach einiger Zeit mit dem Schiff nach Palästina (damals britisches Mandatsgebiet) gebracht.
Als Teil der britischen Armee kam Mirjas Großvater vor Kriegsende nach England. Deshalb konnten Frau und Kind noch kurz vor Kriegsende über Glasgow ebenfalls nach England kommen. Nach der Demobilisierung der britischen Armee sind sie dann zusammen in London sesshaft geworden und wurden 1950 britische Staatsbürger.
Die komplette engere Familie, die im deutsch besetzten Westpolen verblieben war, wurde dort von den Nazis ermordet. Die restlichen engeren Familienmitglieder, die wie Mirjas Großeltern zuerst nach Osten geflohen waren, wurden nach dem Überfall auf Russland von deutschen Truppen ein- und überholt und ebenfalls ermordet oder kamen auf andere Weise ums Leben. Mirjas Großmutter hat bis zu ihrem Tod 2011 gehofft, mehr „Spuren“ ihrer Lieblingsschwester zu finden.
Mirjas Vater genoss in Großbritannien eine ausgezeichnete schulische und universitäre Ausbildung. Wegen seiner Behinderung besuchte er von Kindheit an verschiedene Internate. Dann studierte er zunächst an der Universität Oxford Jura und anschließend am Spurgeons College (einer Hochschule in London) Theologie, nachdem er sich als Baptist zum Christentum bekannt hatte. Nach einem Studienaufenthalt in den USA schrieb er sich an der Universität Zürich ein und lernte dort Mirjas Mutter kennen. Diese stammte aus Norddeutschland und studierte dort auch Theologie. Die beiden heirateten und gingen zunächst nach England zurück, da sie sich dort für ihn bessere Berufsaussichten versprachen. Aus „Heimweh“ zur Schweiz wollte Mirjas Vater allerdings bald zurück. Da eine Niederlassung in die Schweiz jedoch nicht möglich war, zogen die beiden mit der 1980 in London geborenen und inzwischen zweijährigen Mirja möglichst nah an die Schweizer Grenze an den Hochrhein – und dies, obwohl er aufgrund seiner Familiengeschichte verständlicherweise Vorbehalte hatte gegen „alles Deutsche“. Spürbar war das auch an seinem Widerwillen, seine Kriegsopferentschädigungsrente anzunehmen, die er zum Glück erhält. Er tat sich viele Jahre schwer damit, das ihm zustehende Blindengeld überhaupt zu beantragen. Er wollte nie deutscher Staatsbürger werden und ist es bis heute nicht. Aber – inzwischen – fühlt er sich für seine Verhältnisse hier geradezu „zu Hause“.
Durch ihren britischen Vater hat Mirja eine doppelte Staatsbürgerschaft, und selbst ihre Kinder haben diese durch Geburt automatisch bekommen. Die biografischen Brüche im Leben  ihrer Eltern haben auch bei ihr hinsichtlich ihrer Identität und des Gefühls der Beheimatung tiefe Spuren hinterlassen. Sie lebt mit kleinen Unterbrechungen seit 2003 in Karlsruhe, und erst seit einigen wenigen Jahren fühlt sie sich hier zum ersten Mal in ihrem Leben irgendwo „zu Hause“ und angekommen. Ihr Engagement in der ‚AG Garten der Religionen‘ hat maßgeblich dazu beigetragen.


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