Ich bin Deutsch! – Sylvia
Martin: Sylvia, du bist in Kenia geboren. Möchtest du deinen Weg nach Deutschland beschreiben?
Sylvia: Ich habe meinen ersten Mann in Kenia kennengelernt, als dieser dort beruflich tätig war. Mit ihm bin ich sozusagen „abgehauen“. Zu der Zeit war es bei uns noch tabu, einen weißen Mann zu heiraten. Meine Familie kannte meinen ersten Mann ja schon, war jedoch trotzdem gegen eine Verbindung. Jeder in meiner Familie war schockiert und meinte „ … musst du den heiraten?“ oder „ … musst du mit ihm gehen?“.
Aber, ich war damals verliebt und er war der Richtige. Somit bin ich der Liebe gefolgt
Martin: Das quasi Tabu „einen weißen Mann zu heiraten“, würdest du das als Rassismus bezeichnen?
Sylvia: Ich würde sagen, es gibt keinen Rassismus gegen weiße Menschen. Schwarze Menschen können keinen Rassismus praktizieren. Geschichtlich gesehen war das, was die weißen Menschen mit uns gemacht haben, ein Grund dafür, mich schützen zu wollen und „Nein“ zu sagen. Es ging also nicht darum, dass er (mein erster Mann) kein „adäquater“ Mann und „würdig“ war mich zu heiraten, sondern einfach darum, dass er weiß war.
Martin: Kann man sagen, dass es in Kenia noch die Tradition gibt, seine Eltern zu fragen, ob man heiraten darf?
Sylvia: Es geht nicht um das Fragen und ob Eltern mit einer Wahl einverstanden sind oder nicht. Es geht um den begleitenden Segen, den wir unseren Kindern mit auf den Weg geben. Das ist bei uns sehr wichtig. Ich durfte Freunde haben, und ich durfte auch meinen zukünftigen Partner selbst wählen
Martin: Sylvia, du widmest dich sehr stark der Empowerment-Thematik. Was genau steckt dahinter? Wen empowerst du? Mit welchen Mitteln empowerst du Menschen?
Sylvia: (Lacht) Erstmal empowere ich niemanden. Das kann ich nicht. Es wäre super, wenn ich das könnte. Denn dann wären viele, viele Menschen sehr frei. Empowerment ist ein Prozess. Ein Prozess, wieder Verantwortung für sich selbst zurückzuholen und zu sagen: „Ich handle in meinem Namen für mich!“.
Als handelnder Mensch habe ich Möglichkeiten zu entscheiden, mich zu positionieren, volle Verantwortung zu übernehmen und sich nicht definieren zu lassen. Das sind Möglichkeiten, die uns (Schwarzen) aus der Historie heraus weggenommen wurden. Umgangssprachlich gesagt: „Mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen.“
Somit erwächst aus Obamas Slogan „Yes we can!“ ein „Yes I can!“.
Ich glaube, dass in jedem Menschen das Potential steckt, das zu werden was er will und was er sein kann. Oftmals ist es so, dass Menschen eingegrenzt sind. Eingegrenzt durch ein System, durch Strukturen oder Institutionen. Das alles sind Steine auf einem Weg, über die man eine Brücke oder ein Sprungbrett bauen kann.
Martin: In deiner Antwort sind viele Begriffe aus dem Mentoring- und Coaching Umfeld zu finden. Sind Empowerment, Mentoring und Coaching für dich drei voneinander losgelöste Themen, oder greifen diese ineinander?
Sylvia: Das kommt darauf an, aus welcher Perspektive man darauf schaut. Der Begriff „Empowerment“ kommt ursprünglich aus der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung – Civil Rights Movement – und wurde von Mentoren und Coaches übernommen. Der Begriff „Coaching“ kommt aus der Psychologie „es wird versucht jemanden zu helfen, seinen Weg zu finden“.
Unter Empowerment verstehe ich, dass die einzelne Person im Mittelpunkt steht und nicht ein Coach oder ein*e Mentor*in. Als Mentor*in begleitet man einen Menschen (Mentee) nur über eine kurze Zeitspanne. Dabei profitieren die Mentees von der aktiven Kompetenz und der Erfahrung ihrer Mentoren. Ein Empowerment-Prozess ist eine Art „Selbstermächtigung“. Das macht für mich einen großen Unterschied und ist ein sehr persönlicher Prozess.
Das bedeutet aber nicht, dass Mentoren und Coaches nicht gebraucht werden würden.
Martin: Welche Zielgruppen bedienst du mit deinem Empowerment-Angebot?
Sylvia: Ich habe viele Zielgruppen: Frauen, Bi-nationale Paare, People of Color und Jugendliche.
Auch Jugendliche mit einem sogenannten „Migrationshintergrund“. Gerade diese Gruppe lebt in einer Gesellschaft, die immer wieder definiert wer sie sind. Das sich draus ergebende Selbstverständnis ist ein Prozess, den die Jugendlichen annehmen und sich darin positionieren müssen. Ich finde, unsere Gesellschaft platziert diesen definierten Migrationshintergrund, diese Jugendlichen einfach „irgendwo“.
Ich habe mir vorgenommen, jungen Menschen zu helfen, Prozesse früher anzugehen, die ich selbst viel zu spät erkannt habe und angegangen bin.
Der eine Prozess ist das „sich integrieren“, der andere ist „lernen mit seiner Umgebung umzugehen“. Das sind Dinge die sich in Deutschland als schwierig herausstellen könnten.
Martin: Sind die Probleme dieser Jugendlichen abhängig von Ihrer Herkunft oder ihrem „Aussehen“? Sprich: haben Jugendliche die einen People of Color Hintergrund haben, andere Probleme wie Jugendliche mit islamistischen Hintergrund?
Sylvia: Ich würde grundsätzlich sagen dass alle diese Jugendliche, wirklich alle, egal mit welchem Hintergrund die gleichen Probleme, Sorgen und die gleiche Identitätskrise haben.
Aber in einer Gesellschaft, die definiert wer „besser“ ist, gibt es verschiedene Abstufungen in Bezug auf die Hautfarbe. Es gibt den Begriff „passing for white“. Dieser Begriff besagt: „ Je heller du bist, umso unauffälliger bist du!“. Wenn dazu noch die Dimension der Religion hinzukommt, dann kann das schon problematisch werden. Es gibt ja auch People of Color, die Muslime sind. Diese Kombination führt dann meist zu großen Schwierigkeiten.
Grundsätzlich haben aber alle Jugendliche die gleichen Probleme, Bedürfnisse und Kämpfe zu meistern. Ich finde es wichtig, auf diese Dinge einzugehen. An dieser Stelle kommt das Mentoring ins Spiel, um zusammen mit den Jugendlichen einen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen sie sich entfalten, sich wohlfühlen können und sich vor allem angenommen und auch wertvoll fühlen.
Bei vielen Jugendlichen erlebe ich, dass sie derart durch die Gesellschaft definiert werden, dass sie nicht wissen wer sie eigentlich sind. Oder dass sie Fremdbilder als eigene annehmen, die gar nicht ihnen gehören und / oder nicht zu ihnen passen. Das finde ich sehr gefährlich für den Entwicklungsprozess von Jugendlichen. Viele Erwachsene, vor allem im Bildungssystem, haben keine Ahnung, was die Annahme von „falschen Bildern“ in den Jugendlichen alles zerstört. Das finde ich sehr schade, da es nicht einfach ist, diese Dinge später im Leben wieder zu korrigieren.
Diese Korrekturen jedoch zu versuchen, das ist genau die Arbeit, die wir als Therapeuten oder „Berater“ tun, um die ständigen Verletzungen der Jugendlichen mit Migrationshintergrund wieder zu heilen.
Martin: Dein Empowerment-Angebot und Engagement zielt sicherlich nicht nur auf Jugendliche mit sogenanntem Migrationshintergrund?
Sylvia: Ich habe sehr viel mit Jugendlichen gearbeitet und viele Jugendliche, ich würde nicht sagen „empowered“, sondern eher begleitet ihren Weg zu finden und auch zu gehen. Jugendliche, egal welcher Religion und Hautfarbe, haben dieselben Fragen. Auch im christlichen Glauben sind die Rahmenbedingungen für Jugendliche oftmals nicht einfach. Da gibt es im kirchlichen Rahmen viele Tabuthemen die Jugendliche nicht ansprechen und besprechen können. Dabei liegt es ja durchaus in der Verantwortung der Erwachsenen, oder der Verantwortlichen (Institutionen) einen passenden Rahmen für betroffenen Jugendlichen zu gestalten. Wenn wir (Erwachsene und Institutionen) es nicht schaffen, passend zu den Phasen die Jugendliche durchlaufen, einen adäquaten Rahmen zu schaffen: wohin sollen Jugendliche mit Ihren Fragen und Problemen gehen?
Martin: Welche persönlichen Erfahrungen mit Diskriminierung und vielleicht auch mit Rassismus musstest du in deinem Leben machen?
Sylvia: Erfahrungen in den Bereichen Diskriminierung und Rassismus sind sehr, sehr vielschichtig.
Der größte Wendepunkt in Bezug auf Rassismus., an dem ich mich wirklich gefragt habe, welchen Wert ich als Mensch habe verbirgt sich hinter folgender Geschichte:
Zu der Zeit zu der mein (erster) Mann mir einen Heiratsantrag gemacht hat, gab es einen weißen Prediger in unserer Mission in Mombasa, der vor der versammelten Gemeinde gepredigt hat, ich würde in Sünde leben. Dass es nicht Gottes Wille wäre, dass Schwarz und Weiß zusammenkommen.
Das war das erste Mal, die erste Situation in der ich mich als Mensch in Frage gestellt habe. Dass mir damals jemand jegliche Menschlichkeit abgesprochen hat, so etwas hatte ich noch nie erlebt. Dadurch habe ich mich wie eine Frau aus dem Rotlichmillieu gefühlt – das war sehr schmerzhaft.
Für mich war mein zukünftiger Mann nicht Weiß, sondern einfach ein Mann, den ich geliebt habe. Wir haben dann trotzdem geheiratet und sind danach zusammen nach Deutschland gegangen.
Am Anfang habe ich hier in Deutschland nichts von Diskriminierung und Rassismus mitbekommen – ich sprach ja kein Wort Deutsch. Diese Art „Schutz“ war vielleicht gut, weil ich einfach nicht verstanden habe, was die Menschen reden. Als ich die deutsche Sprache zu verstehen, und gehört habe, was die Leute sagten: Diese subtilen Bemerkungen, die immer wieder in den Raum gestellt wurden, habe ich damals nicht als Diskriminierung oder „du gehörst hier nicht her“ erfasst, sondern erst viel später. Das war vielleicht auch gut so.
Damals war ich sehr tief in christlichen Denkmustern verwurzelt. Bis ich gemerkt habe, dass Christen auch sehr, sehr rassistisch sein können. Da wurde mir erst klar, was uns in unserer Jugend in der Kirche widerfahren ist.
(Denkt nach) Wie kann ich das erklären. Wir wurden mit Strenge geradezu dressiert, weil wir nur dadurch „richtig geraten würden“. Aufgrund dieser Erfahrungen und Erkenntnis würde ich nicht mehr in Gottesdienste oder in christliche Jugendgruppen gehen – auch meine Kinder würde ich nicht dorthin schicken.
Damals (in der Mission) mussten wir streng nach dem Katechismus und der Bibel leben.
Erst in Deutschland habe ich gemerkt, wie wichtig es ist einfach nur ins Gespräch zu kommen.
Es war für mich ein Akt der Erkenntnis, dass das was die Kirche, der Pfarrer, in der Mission gepredigt und von uns erwartet hat, hier in Deutschland gar nicht möglich ist. Es war für mich ein Schock und eine Erweckung gleichzeitig zu sehen, dass Dinge die uns dort (in Kenia) eingebläut wurden, hier gar nicht mehr, oder nicht in diesem Maße praktiziert werden.
Daher ist es für mich so essentiell, Jugendlichen den Raum zu geben, über viele, viele Themen offen zu sprechen. Viele Fragen zu stellen.
Martin: Deine Arbeit mit Jugendlichen soll auch auf einen vorherrschenden Alltagsrassismus vorbereiten?
Sylvia: Ja! Es ist ganz wichtig zu erkennen, wie Alltagsrassismus funktioniert. Oft treten die dadurch erlittenen Verletzungen erst sehr viel später auf und wir können dann nicht mehr einordnen, woher diese Verletzungen kommen. Es ist sehr schwierig einzuordnen, was in Momenten des Alltagsrassismus mit einem selbst passiert. Daher müssen Jugendliche früh für die subtile Art der Bemerkungen und den Umgang damit sensibilisiert werden, um ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln zu können.
Alltagsrassismus selbst erleben zu müssen ist ja nicht die Schuld von uns (People of Color) oder die von Jugendlichen. Diese Erlebnisse von mir als Person zu trennen ist wichtig.
Alltagsrassismus ist eine Machtfrage, es ist wie eine Abschiebung: „Du gehörst hier nicht her!“.
Die Frage: „Wo kommst du her?“ wird immer und immer wieder gestellt.
Viel wichtiger wäre zu fragen: „Wer bist du?“
Daher ist Sensibilisierung so wichtig: Diese Frage nach dem „Woher“ hat nichts mit mir als Person zu tun hat, sondern hat mit Denkkategorien der Fragesteller zu tun, die historisch gesehen auf einen Mechanismus zurückgeht, dessen sie sich vielleicht gar nicht bewusst sind.
Die „Awareness“ gerade von Jugendlichen mit sogenanntem Migrationshintergrund muss also geweckt werden, um diese Dinge von ihnen als Person zu trennen und als System dahinter zu erkennen. Um zu lernen, und zu wissen, wie es funktioniert.
Heute kannst du mit Menschen zusammensitzen und dich nett unterhalten. Morgen verletzen dich dieselben Menschen, weil du sie in einem anderen Kontext triffst. Das passiert uns (People of Color) immer und immer wieder; auch mit Personen, die wir vermeintlich „kennen“. Dann ist es immer schwierig zu wissen, ob diese Aussagen aus „kollektiven Handeln“ (in einer anderen Situation) heraus oder aus der Person selbst kommen.
Alltagsrassismus wird häufig auch benutzt um uns „auszuladen“, zu verunsichern, Hindernisse in den Weg zu legen, oder uns abzuschrecken an manche Türen anzuklopfen.
Man kann die People of Color, die in den deutschen Verwaltungen sitzen an einer Hand abzählen.
In Deutschland wird von Vielfalt gesprochen, vor der man jedoch gleichzeitig Angst hat. Das finde ich schrecklich. Dieser gesellschaftliche Diskurs „Man muss Angst vor uns haben.“ wird oftmals auch medial verbreitet.
Warum? Woher kommt diese Angst? Kennt man diese Ängste vielleicht von irgendwoher? Von Gewalt die man in der Vergangenheit gegenüber „Anderen“ ausgeübt hat? Kommt diese Angst von eigenen Erlebnissen, Erinnerungen oder von Erzählungen? Vielleicht ist es ja opportun, Menschen wie mich einfach anders zu sehen, obwohl ich gar nichts dafür kann.
Martin: Du lebst ja schon lange in Deutschland. Was hat sich für People of Color, oder für Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund, in dieser Zeit zum Guten oder zum Schlechten verändert?
Sylvia: Verbessert hat sich, dass es mehr von uns gibt (lacht). Früher habe ich oft wochen-, monate-oder jahrelang keine anderen People of Color gesehen. Heute ist es eine Freude zu sehen, dass ich nicht mehr alleine bin und es mehr von uns gibt.
Unsere Präsenz hat sich also positiv verändert.
Negativ verändert hat sich die Tatsache, dass Rassismus „politisch korrekt“ geworden ist.
Martin: Was genau meinst du damit?
Sylvia: Ein Politiker kann zum Beispiel das N-Wort legitimiert benutzen. Dieses Wort ist historisch negativ belastet und für uns ein no go. Kürzlich erhielt ein Landtagsabgeordneter einen Ordnungsruf, da er dieses Wort benutzt hat. Ein Landesverfassungsgericht sah das anders (Quelle: Süddeutsche Zeitung)
Das zeugt von Missachtung eines Teils unserer Gesellschaft. Für eine Unreflektiertheit in Bezug auf „die Macht der Worte“ und die historische Belegung dieses Wortes.
Es ist schade und gefährlich, dass solche Worte in unserer Gesellschaft wieder normal werden, und auch nicht in Ordnung, wenn negativ behaftete Worte Menschen bezeichnen und „wir“ dagegen ankämpfen müssen.
So gibt es immer noch viele „koloniale“ Straßennamen oder Geschäfte, in denen man auch heute noch „Kolonialwaren“ kaufen kann. Die Haltung dahinter ist nur schwer einzuschätzen, man weiß nicht mehr sicher mit wem man es zu tun hat.
Früher hatte man ein Bild im Kopf, welches die Haltung von bestimmten Personen ausdrückt: Glatzkopf, Springerstiefel und Tätowierungen.
Martin: Das bedeutet, das Thema ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen?
Sylvia: Dieses Thema ist nicht nur in der Mitte der Gesellschaft angekommen, es wird in der Mitte der Gesellschaft gelebt!
(Lange Pause) Aber: es gibt sehr viele Menschen, die sich dagegenstellen und sich solidarisch zeigen. Trotzdem benötigt es noch mehr Zivilcourage aus der Mehrheit der Gesellschaft, um sich dagegen zu stellen, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.
Martin: In meinem Interview mit Sawsan Chebli sagte Frau Chebli: „Die Mitte ist mir zu still.“
Was müsste deiner Meinung nach unternommen werden, damit die Mitte nicht mehr so still bleibt? Wie könnte diese Mitte aktiviert werden?
Sylvia: ZweiDinge finde ich dabei wichtig und sind mir insbesondere bei den Vorbereitungen zu der Woche gegen Rassismus aufgefallen.
Die Mehrheitsgesellschaft muss zuhören können. Diese ist sehr schnell dabei, Rassismus oder Diskriminierung zu definieren ohne dabei mit uns (People of Color), sehr wohl aber über uns zu sprechen.
Ich habe einmal Menschen einer Gruppe gefragt, ob sie wissen, wie sich Rassismus anfühlt. Dabei hatte ich das Gefühl, dass sie mich nicht verstanden haben und dass sie meine Frage eher als störend empfunden haben. Die Mehrheitgesellschaft muss meiner Meinung nach versuchen einen gewissen Quotienten an tieferer Empathie zu finden, um den Prozess des Erkennens mitgehen zu können. Rassismus ist nicht theoretisch, sondern vielschichtig; jede Person, die Rassismus ausübt ist anders.
Es ist schwierig Menschen, im direkten Gespräch gegenüber Rassismus zu sensibilisieren. So führt das Aufmerksam machen von rassistischer Sprache meistens zu einer Verteidigungshaltung. Das gilt insbesondere für Worte, die man „unabsichtlich“ benutzt, weil sie ja „zur gewohnten Sprache“ gehören. Man kann also sehr wohl gegen Rassismus sein, aber gleichzeitig rassistisch handeln.
Die Mehrheitsgesellschaft braucht meiner Meinung nach mehr Bildung in Bezug auf „miteinander reden“ und „miteinander leben“. Ich würde wirklich jede*m aus der Mehrheitsgesellschaft ans Herz legen, sich aktiv damit auseinanderzusetzen was es bedeutet „Weiß“ zu sein.
Ich werde immer als „Schwarz“ definiert. Wer oder was aber definiert „Weiß“ ? Wer definiert wen? Und warum?
Es wäre wünschenswert, wenn die Mehrheitgesellschaft aus ihrer Position heraus ihre Privilegiertheit, ihre Machtposition, ihre Lockerheit sich überall frei zu bewegen wirklich reflektieren würde.
Martin: Was macht es mit dir, wenn in Berlin ein Anschlag auf einen Schwarzen Bundestagsabgeordneten ausgeübt wird?
Sylvia: (Lange Pause) Das macht mir Angst. Angst zu sehen, dass man auch in solchen Positionen nicht geschützt, nicht unantastbar ist. Dieser Anschlag zeigt, wie gefährlich es heutzutage geworden ist. Was mir noch mehr Angst macht ist die Stille aus dem politischen Raum heraus. Ich hätte es auch nicht erwartet, dass man nur einige wenige Male in der Zeitung darüber liest und dann ist das Thema erledigt und abgearbeitet.
Das wirft für mich die Frage auf: „Wo ist Rassismus überall bereits angekommen?“ Dieser Anschlag auf einen Bundestagsabgeordneten ist für mich ein Ausnahmezustand. Leider wird er nicht so behandelt. Das macht mich nachdenklich und ich frage mich in was für einer Gesellschaft wir leben.
Martin: Im besten Fall sollte der Aufschrei in Berlin lauter sein als überregional oder bundesweit?
Sylvia: Nein! Hier kommen wir nun zu dem Thema der vorherrschenden medialen Berichterstattung: Über wen wird in welchem Kontext berichtet?
Über die Vorfälle auf dem Kölner Domplatz und die „Menge an Bart tragenden Männern“ wurde viel länger und intensiver berichtet. Ich finde das nicht in Ordnung. Warum wurde zum Beispiel nicht intensiver über die Opfer der NSU-Prozesse berichtet? Sind die Opfer der NSU, oder der betroffene Bundestagsabgeordnete weniger wert, als die Opfer vom Kölner Domplatz? Unser System funktioniert leider so, dass über manche Menschen und Gruppen weniger berichtet und gezeigt wird als über andere.
Martin: Verkauft sich die Bedienung eines medialen Mainstreams also besser?
Sylvia: Warum wird „der Scheiß produziert“ den die Menschen sehen wollen? Den Schwarzen Vergewaltiger. Die Schwarze Putzfrau.
Warum wird nicht auch im gleichen Maße über den erfolgreichen Schwarzen Geschäftsmann, oder über eine Schwarze Professorin, die im Europaparlament sitzt, berichtet? Warum kann man diesen Menschen nicht ein Gesicht geben? Warum müssen wir Schwarze so oft in einem negativen Licht dargestellt werden? Warum gibt man einem weißen Menschen in einem jahrelang andauernden Prozess eine so große Bühne. Was ist mit den toten Opfern? Was ist mit den Familien der Opfer?
Sie bleiben auf sich alleine gestellt und müssen sehen, wie sie zurechtkommen.
That’s not OK! Das spiegelt nicht die Idee hinter den Grund- und Menschenrechten wider, deren 70-Jähriges Bestehen wir gerade zelebriert haben.
Das ist ein Widerspruch. Und bei allem Respekt: Diese Entwicklung in Deutschland kann ich nicht gutheißen.
Martin: Harter Schnitt zu einem anderen Thema. Du hast den Verein „SIMAMA – STEH AUF e.V.“ mitbegründet. Welche Ziele verfolgt dieser Verein, was möchtet ihr erreichen?
Sylvia: Was SIMAMA erreichen möchte ist Sichtbarkeit. „SIMAMA“ ist ein suahelisches Wort und bedeutet „steh auf“, „richte dich auf“ oder „geh aufrecht“.
„Steh auf“ ist auch eine Aufforderung. Weil wenn man steht, passiert etwas. Man hat die Möglichkeit sich zu bewegen. Du kannst dich umdrehen, dich hinsitzen, streiten … (Pause) … du kannst auch gehen.
SIMAMA soll dir eine Wurzel geben, auf der du stehen kannst. Unser Logo zeigt drei Flügel. Diese stehen für „Du kannst nur fliegen lernen, wenn du fliegst.“ Gleichzeitig werden die Flügel nach unten hin immer kleiner. Das bedeutet „je mehr jemand wird umso weniger werde ich“. D.h in die begleitungsarbeit, die wir leisten darf keine Abhängigkeit entstehen.
Diese Aussagen beziehen sich auf unsere Arbeit mit Menschen: Wir können nur Flügel verleihen, wie der Adler Mutter, indem wir ein Stück des Weges mitgehen oder ein Stück mitfliegen, loslassen Flattern und fliegen müssen die Menschen jedoch selbst. Die Prozesse des Empowerments und der Entwicklung funktionieren nur miteinander.
Du hast am Anfang gefragt „Mit welchen Mitteln empowerst du Menschen?“
Ein großes Instrument des Empowerments ist Liebe. Liebe, Vertrauen und auch Zutrauen, dass ein Mensch sich entwickeln kann. Wir besitzen schon alle was wir brauchen, um alles zu werden was wir wollen. Wenn wir das verstehen und unser Umfeld uns das auch zugesteht, dann bewegt sich etwas, dann passiert etwas. Es sind die unterschiedlichen Begegnungen, die wir machen, die Dinge verändern können.
Daher habe ich auch das Programm „Touch to Change“ ins Leben gerufen. Das bedeutet nicht nur jemand anzufassen, sondern Momente zu erleben, die uns erfassen. Momente zu haben und miteinander in Kontakt zu kommen. Ich glaube, wir haben verlernt wie es sich an fühlt angenommen zu werden, achtsam und aufmerksam zu sein gegenüber den Momenten, die wir uns gegenseitig schenken. Die Zeit gemeinsamer Momente sind einmalig, nicht wiederholbar. Es ist unser Anspruch, Momente zu haben die verändern. Das wird viel zu oft unterschätzt. Die Momente, die man zusammen verbringt, oder zusammen ein schönes Gespräch führt, sind nur wenige, aber sie machen etwas mit uns. Diese Momente vergessen wir auch nicht.
Es sind diese Momente in denen auch mir bewusst wird, dass mein Leben in der nächsten Sekunde schon anders sein oder sogar die letzte Sekunde meines Lebens sein könnte. Was also will ich, nach dem Motto, „ich möchte gerne leer sterben, ich muss alles hier lassen“, daraus machen?
Wen wir uns bewusster machen würden, wie limitiert unsere Zeit wirklich ist, dann denke ich, wir würden ganz anders miteinander umgehen.
Martin: Da kommt mir spontan die Rede von Steve Jobs in Stanford in den Sinn …
Sylvia: Ja …
Martin: Wenn eine Fee neben dir stehen würde und du hättest einen Wunsch frei, was würdest du dir wünschen?
Sylvia: Nur ein Wunsch? (Lange Pause)
Ich glaube, ich würde mir Gelassenheit wünschen. Gelassenheit ist einer meiner Grundsteine. Es geht immer weiter, egal wie. Ich denke ohne Gelassenheit passieren viel mehr schlimme Dinge. Mit Gelassenheit kann man auch geduldig werden.
Aber ein Wunsch ist zu wenig. Ich würde mir auch Weisheit wünschen, Dinge zu verstehen
Martin: Sylvia, eine Frage die ich in jedem Interview stelle … „Was ist für dich typisch Deutsch?“
Sylvia: (Lacht laut, um danach eine lange Pause zu machen) Ich würde das gerne ein wenig abstrakter fassen. Typisch Deutsch ist für mich „nicht geben zu können, dass ich es nicht weiß und der fehlende Mut zu sagen: sag es mir“. Ja, das hört sich sehr kompliziert an, aber ich finde es auch unheimlich schwierig mit Deutschen, auch mit hochgebildeten, zu sprechen, die es nie wagen würden zu fragen: „Wie meinst du das?“. Nein, da wird der Gesprächsfaden einfach weitergesponnen. Dieses nicht nachfragen assoziiere ich mit einem Desinteresse, man hört zwar die Worte, arbeitet aber nur mit diesen.
Oder die Frage: „Wie geht es dir?“ Ich finde diese Frage ist eine Einladung, die Erlaubnis den sich damit öffnenden Raum zu betreten und auch zu benutzen. Man kann in diesem Raum auch sagen: „Mir geht es sehr schlecht!“. Warum denn nicht? Die viel zu oft gegebene Antwort auf die Frage: „Wie geht es dir“ ist „Mir geht es gut“. Das offen Fragende und offen Antwortende, das gehört für mich untrennbar zusammen. Das ist für mich typisch Deutsch.
Was ich als Kind immer genossen habe waren diese schweigenden Momente des Erzählens, wo wir nur zuhören durften oder konnten. Es gab Erzählungen, die die Fantasie angeregt hat, Angst gemacht haben oder uns Kindern diesen Moment der Geborgenheit gab in dem man dachte: „Das könnte wirklich so sein.“
Das waren für mich sehr bereichernde Momente, einfach nur zuzuhören.
Typisch Deutsch ist auch diese unheimliche Ich-Bezogenheit. Also eine Mischung aus egoistischen und narzisstischen Eigenschaften. Ein Beispiel: Als Trainerin muss man oft auch unangenehme Themen ansprechen, gerade wenn es um Rassismus geht.
Wenn es in diesen Gesprächen um Negatives geht höre ich sehr oft: „Ich nicht!“ oder „Ich bin nicht so!“. Bei Positivem heißt es dann „Ich aber!“
Eine didaktische oder dialektische Auseinandersetzung, sich aktiv zurückzunehmen und zu fragen „Was meinst du“ oder „Was war falsch daran?“ das passiert leider sehr wenig.
Es geht aber, gerade bei rassistischen oder diskriminierenden Themen und Gesprächen, nicht um das „Ich“, sondern um das System, in dem man lebt, sich aufhält und bewegt.
Dieses System muss man aber erkennen, um Rassismus und Diskriminierung beseitigen zu können.
Die Frage „Was ist typisch Deutsch“ ist eine sehr schwierige Frage, weil sie meiner Meinung nach ein gefährliches Klischee bedient, und zu stereotypischen Antworten führen kann.
Martin: Genau deshalb stelle ich diese Frage auch immer. Ich möchte einfach sehen, wie unterschiedlich die Reaktionen darauf sind. Auch wenn diese Frage vielleicht erst einmal banal klingt.
Sylvia: Die Frage ist nicht banal. Sie öffnet unsere Schubladen.
Martin: Sylvia, vielen Dank für das Interview.